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Automatische Netzsteuerung ist möglich und nötig

26.02.2024 – Prof. Dr.-Ing. Markus Zdrallek, Leiter des Lehrstuhls für Elektrische Energieversorgungstechnik an der Universität Wuppertal, erläutert im Interview den aktuellen Stand in Praxis und Forschung bzgl. der flächendeckenden Implementierung von intelligenter Steuerungstechnik in die Verteilnetze. 

Durch die Energiewende wird der Verteilnetzbetrieb immer komplexer und erreicht seine Kapazitätsgrenzen. Prof. Zdrallek untersucht mit seinem Team an der Universität Wuppertal, wie mit Automatisierung vorhandene Netzkapazitäten besser ausgenutzt und die Effizienz gesteigert werden können. Fazit: Beobachtbarkeit und Steuerbarkeit der Netze sind zwingend, die Technik und der regulatorische Rahmen müssen aber stimmen. 

 

„Die Rahmenbedingungen für die Regulierung der Netzentgelte müssen attraktiver werden.“ Prof. Markus Zdrallek sieht aber viele Netzbetreiber auf dem Sprung in Richtung intelligenter Steuerungstechnik. Foto: Barbara Schulz / sig Media

Herr Prof. Zdrallek, Sie haben bereits vor zehn Jahren im Rahmen des Projekts iNES eine intelligente Automatisierungstechnik für Ortsnetzstationen entwickelt. Wie ist der heutige Stand? 

Diese Technik ist derzeit in ungefähr 50 oder 60 Netzen eingebaut, wo sie die veränderte Leistungsflusssituation zyklisch überwacht und bei drohenden Grenzwertverletzungen geeignete Gegenmaßnahmen einleitet. Heute heißt sie allerdings nicht mehr iNES. Es gibt aber auch vergleichbare Technik von anderen Anbietern. 

Wie funktioniert das System? 

Das dezentrale, autarke Systemkonzept entlastet die Netzbetriebsführung und die Leitsysteme durch das automatisierte, selbstständige Überwachen und Ausregeln des Netzes ohne zwingenden Eingriff übergeordneter Instanzen. Damit kann eine (teil-)autonome, verteilte Netzsteuerung sicher in die Betriebsführung der Leitstellenintegriert werden. Somit können zugeordnete Netze autonom überwacht und geregelt werden. Das System besteht aus dezentralen Modulen, die untereinander und mit übergeordneten Systemen verbunden werden, wobei jedes Modul seinen Verantwortungsbereich eigenständig steuern kann, aber auch auf die Anforderungen des übergeordneten Netzes reagieren kann. 

Viele Automatisierungskonzepte sind bis heute aber nicht über den Pilotcharakter hinausgekommen. Woran liegt das? 

Ja, jeder Netzbetreiber hat vielleicht zwei oder drei Piloten gemacht, aber es gab bisher noch nicht den großen Wurf. Der eine Grund ist, dass Netzbetreiber und Stadtwerke eher konservativ sind. Der konservative Netzausbau mit Kupfer ist zwar rund 30% teurer, aber mit der Kabelverlegung ist der Netzbetreiber auf der sicheren Seite. Das andere hat mit der Regulierungssystematik zu tun, also wie Netzentgelte zustande kommen, die man nehmen darf. Da ist es für Netzbetreiber heute häufig noch attraktiver, in Kupfer, also Kabel zu investieren als in Steuerungstechnik. 

Das heißt, es müssen attraktivere Rahmenbedingungen geschaffen werden, die die Investition in Steuerungstechnik attraktiver machen? 

Ja, die Rahmenbedingungen müssen attraktiver werden für die Regulierung der Netzentgelte. Die Investitionen, also der CapEx, wird von der Regulierung anders behandelt als die operativen Kosten, der OpEx. Die Kosten für die Einführung intelligenter Systeme fällt zu einem großen Teil auf die operativen Kosten, währen die Kabellegung mit den Investitionsausgaben verrechnet werden. Das ist für die Netzbetreiber weniger attraktiv, denn der CapEx trägt signifikant dazu bei, die Wettbewerbsfähigkeit langfristig zu steigern. 

Sehen Sie also schwarz für die flächendeckende Implementierung von intelligenter Steuerungstechnik in die Verteilnetze? 

Nein. Dadurch, dass alle Netzbetreiber um die Kostenersparnis gegenüber dem konventionellen Netzausbau wissen, und sie alle von dem riesigen Netzausbau überrollt werden, bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als auf intelligente Technik zu setzen. Wir merken auch an den Anfragen bei uns, dass viele Netzbetreiber auf dem Sprung sind. Viele haben ein Pilotprojekt erfolgreich durchgeführt und wissen, dass die Technik grundsätzlich funktioniert und die Kinderkrankheiten ausgemerzt sind.  

Mit welchen Fragestellungen kommen die Netzbetreiber auf Sie zu, die sich mit der Implementierung intelligenter Steuerung beschäftigen? 

Die dringendste Frage der Betreiber ist „wo fange ich an?“. Was sind die kritischsten Netze? In Köln haben wir zum Beispiel ungefähr 6000 Ortsnetze, die nicht alle gleichzeitig automatisiert werden können oder müssen. Die Verantwortlichen kommen auf uns zu und fragen, in welche 600 Netze sie zuerst investieren sollten, weil es dort in den kommenden Jahren voraussichtlich am wahrscheinlichsten zu Netzengpässen kommen kann, z.B. durch den Ausbau von Ladesäulen, Wallboxen oder Wärmepumpen. Es geht also um die Identifizierung der kritischen Netze. Von den 600.000 Netzen in Deutschland sind die Hälfte gut ausgebaut und unkritisch. 

Wo finden sich denn die meisten kritischen Netze? 

Entgegen der allgemeinen Vermutung liegen die kritischen Netze nicht in den Innenstädten, sondern in den Wohngebieten am Stadtrand oder auf dem Land. Hier finden sich häufig sogenannte „Zahnarztalleen“, wo das Stromnetz häufig überlastet ist, weil die Kaufkraft sehr hoch ist und viele Menschen ein E-Auto besitzen, das sie gleichzeitig laden. Noch kritischer sind allerdings Reihenhaussiedlungen, wo die Häuser dicht an dicht stehen und viele eine Wärmepumpe, eine PV-Anlage oder/und ein Elektrofahrzeug haben.

Prof. Dr.-Ing. Markus Zdrallek, Leiter des Lehrstuhls für Elektrische Energieversorgungstechnik an der Bergischen Universität Wuppertal. Foto: Barbara Schulz, sig-media

Wie ermitteln Sie diese Gebiete? 

Wir haben ein System entwickelt, mit dem wir verschiedene Daten miteinander kombinieren, wie zum Beispiel sozioökonomische Daten von der GfK. Aus den Daten können wir die Kaufkraft in bestimmten Straßen ermitteln, die Anzahl der Garagen und die Technikaffinität. Daraus ergibt sich die Wahrscheinlichkeit der Anschaffung eines Elektrofahrzeugs und damit eine hohe lokale Netzauslastung.   

Woran arbeiten Sie an Ihrem Lehrstuhl derzeit noch aktuell? 

Die Netzzustandsüberwachung ist für Netzbetreiber ein kostspieliges Unterfangen. Der Netzzustand wird mit Hilfe von Sensoren ermittelt. Wir untersuchen hier an unserem Lehrstuhl, wie die nötigen Sensoren im Netz reduziert werden können, denn je weniger Messtechnik ich brauche, desto günstiger wird das System. Derzeit können wir Netzzustände mit Messtechnik in jedem zehnten Kabel berechnen. Auf Grundlage dieser Daten wird der Zustand für das gesamte Netz berechnet. Wir wollen aber die nötige Messtechnik im Netz weiter reduzieren, zum Beispiel durch die Einbindung von Smart Metern. Daran forschen wir aktuell. (bs) 

www.evt.uni-wuppertal.de