21.06.24 – Traditionell betrachten Netzbetreiber die Mittel- und Niederspannungsebene getrennt. Die Secure Switzerland AG – vormals Adaptricity AG – hat jetzt ein hierarchisches Simulationsverfahren für komplette Verteilnetze entwickelt. Es kombiniert Zeitreihen mit synthetischen Lastprofilen.
Durch die Integration erneuerbarer Erzeuger und neuer elektrischer Lasten sind die Verteilnetze bekanntermaßen zunehmenden Belastungen ausgesetzt, welche zu Engpässen oder Störungen an Betriebsmitteln führen können. Um notwendige Verstärkungen effizient zu planen und die Netze sicher zu betreiben, müssen die zugrundeliegenden Annahmen möglichst realitätsgetreu getroffen werden.
Laut Nikolaos Efkarpidis, Software-Experte und Entwickler bei der Secure Switzerland, weisen die heute üblichen Simulationsverfahren dabei jedoch einige Schwächen auf. Sein Unternehmen, die frühere Adaptricty AG, bietet daten- und cloudbasierte Software-Tools für alle Netzprozesse – darunter auch die Netzsimulation. „Bislang wurden die Wechselwirkungen zwischen den Niederspannungsnetzen und dem übergeordneten Verteilnetz meist nicht berücksichtigt“, erläutert er. Das führe teilweise zu falschen Annahmen. „Wenn sich beispielsweise in einem der Netze ein großer Einspeiser befindet, steigt die Spannung auch in den untergeordneten oder benachbarten Netzen – unter Umständen auf kritische Werte. Diese Situation findet man im Zuge der Energiewende immer häufiger vor, bei einer getrennten Betrachtung der Netze und Spannungsebenen bemerke ich das Problem aber in der Regel nicht“, führt Efkarpidis aus.
Gleichzeitig sei es bei den traditionellen Verfahren sehr aufwändig für die Netzbetreiber, einen Überblick über ein größeres Netzgebiet zu gewinnen. „Das Ziel muss es aber sein, kritische Netzabschnitte schnellstmöglich zu identifizieren, damit man dort gezielt einschreiten kann.“ Das betrifft nicht nur die Planung eventuell erforderlicher Netzverstärkungsmaßnahmen, sondern auch Themen wie das präventive Steuern regelbarer Verbraucher. Mit einem neuen Simulationsmodell – jetzt Bestandteil des Softwaremoduls Adaptricity.sim – ist diese zusammenhängende Betrachtung aller Spannungsebenen in einem Netzgebiet nun möglich. Um dabei mit vertretbarem Aufwand zu einer möglichst realitätsnahen Beurteilung zu gelangen, hat Secure zwei Verfahren kombiniert.
Zeitreihen, Synthese und Iteration
Da die Digitalisierung der Mittel- und vor allem der Niederspannungsnetze noch in den Anfängen steckt, sind Daten aus intelligenten Messsystemen oder Betriebsmitteln häufig noch nicht in ausreichender Granularität verfügbar. Zeitreihenbasierte Ansätze allein liefern also keine validen Erkenntnisse. Aus diesem Grund bietet die neue Simulationslösung die Möglichkeit, synthetische Zeitreihen zu generieren und dort zu ergänzen, wo reale Daten nicht verfügbar sind. Das System aggregiert die realen und synthetischen Daten und führt – unter Berücksichtigung von Erzeugung, Referenzspannung und geschätzten Netzverlusten – mehrere Iterationsschritte durch, bei denen die Soll- und Ist-Werte in Beziehung gesetzt werden. Dies geschieht zunächst für die Niederspannung, anschließend wird die Mittelspannungsseite simuliert. Das Ergebnis fließt wiederum in die Bewertung der Niederspannungsnetze ein. Da mehrere Simulationen gleichzeitig durchgeführt werden können, ist es möglich, auch große Netze schnell im Überblick zu betrachten, und zu entscheiden, ob Grenzwerte in einzelnen Netzabschnitten oder Betriebsmitteln erreicht oder überschritten werden. „Damit kann der Netzbetreiber sich gezielt auf die Bereiche konzentrieren, in denen es tatsächlich Probleme gibt“, fasst Grid-Experte Efkarpidis zusammen. Ein weiterer Vorteil ist, dass Profile für Lasten oder Erzeuger einfach erstellt werden können.
Visualisierung und Analyse
Unterstützt wird die Bewertung durch eine differenzierte Visualisierung der Topologie im GIS, Problembereiche sind farblich grün, gelb oder rot gekennzeichnet. Ein Dashboard zeigt die Last- und Leistungsbelastung aller betrachteten Betriebsmittel im Überblick, so dass auf einen Blick erkennbar ist, ob und wo Schwellenwerte überschritten werden. Per Mausklick auf den jeweiligen Strang oder die kritische Station sind dann weitergehende Analysemöglichkeiten in Form von Grafiken, Histogrammen oder Boxplot verfügbar.
Praxistest in Schweden
Erfolgreich getestet wurde das neue Verfahren in einem größeren Netzgebiet in der schwedischen Region Östersund. Dabei wurde ein großflächiges 16kV-Niederspannungsnetz mit 453 Ortsnetzstationen (16 kV / 04 kV) und einem Umspannwerk zum übergeordneten 110 kV-Netz betrachtet. Da dort kaum Smart-Meter-Daten aus den Haushalten vorliegen, wurde bei der Simulation mit synthetischen Lastprofilen und den Referenzdaten größerer Verbraucher im Netzgebiet gearbeitet. Die Einspeisung aus PV-Anlagen sowie der Verbrauch von Elektrofahrzeugen wurden in Form von Zeitreihen einbezogen. „Die hierarchische Simulation lieferte priorisierte Listen, die genau zeigten, an welchen Niederspannungssträngen oder Transformatoren Grenzwertverletzungen drohten oder sogar vorlagen“, berichtet Efkarpidis. Dabei hätten sich sehr schnell mehrere kritische Netzabschnitte gezeigt, die daraufhin detailliert und sehr konkret analysiert werden konnten.
Zukunftsszenarien
Mit der hierarchischen zeitreihenbasierten Simulation können auch Zukunftsszenarien für unterschiedliche Ausbaustufen von Photovoltaikanlagen und Ladestationen durchgerechnet werden, berichtet Nikolaos Efkarpidis. Dabei werden Leistungsmessungen auf Kundenebene und sowohl Leistungs- als auch Spannungsmessungen auf Transformatorebene zugrunde gelegt, die Durchdringung wird prozentual zu den vorhandenen Netzknoten gerechnet.
Auch in der Zukunftsbetrachtung ist es möglich, Entwicklungen in der Mittel- und Niederspannung gleichzeitig und in ihren gegenseitigen Abhängigkeiten zu betrachten: „Wir können uns zum Beispiel anschauen, was geschieht oder wo es eng wird, wenn in der Mittelspannung an 40 Prozent der Netzknoten PV-Anlagen einspeisen, während gleichzeitig in der Niederspannung an 50 Prozent der Netzknoten Ladepunkte für Elektrofahrzeuge Strom verbrauchen“, berichtet Efkarpidis. Diese Zukunftszenarien können als wertvolle Indikatoren für die Netzplanung beziehungsweise den Netzausbau dienen.
Echte datenbasierte Prognosen, wie sie beispielsweise für die kurative Steuerung von regelbaren Verbrauchern benötigt werden, befinden sich bei Secure in der Entwicklung. Ein weiteres geplantes Feature für Adaptricity.sim, das speziell auf den Bedarf der Betreiber von Flächen- oder großstädtischen Verteilnetzen abhebt, ist die Möglichkeit, ausgewählte Teilnetze, etwa in einem Stadtviertel oder einer größeren Region, im Zusammenhang zu betrachten. (pq)