05.01.2024 – Eine eigene modulare Lösung für die Systemsteuerung soll künftig das bisherige Leitsystem beim Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz ersetzen und damit gleichzeitig Impulse für eine zeitgemäße Digitalisierung der Prozesse auf allen Spannungsebenen geben.
In der 50Hertz-Leitstelle will man für die Herausforderungen der Energiewende gerüstet sein. Foto: 50Hertz Transmissions GmbH
Wenn etwas nicht mehr passt, sollte man es austauschen. Eine gute Regel, die allerdings erfahrungsgemäß schon im alltäglichen Leben nicht immer einfach umzusetzen ist. Umso bemerkenswerter ist es, wenn einer der vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber sein komplettes Netzleitsystem und alle seine Anwendungen für die übergeordnete Steuerung ersetzt – und zwar durch eine im Wesentlichen selbst entwickelte digitale Lösung. Das ist keineswegs nur eine Vision: Ende September 2023 wurde mit dem neuen System erstmals eine Schaltung unter Strom an einer Sammelschiene im Umspannwerk Neuenhagen bei Berlin erfolgreich demonstriert. Zugleich startete die Übungsphase für den sogenannten Schattenbetrieb. Die vollständige Inbetriebnahme des modularen, digitalen Leitsystems im Regelbetrieb ist für 2025 geplant. In den nächsten zwei Jahren trainieren die Teams und Operator im Control Center, der Leitwarte von 50Hertz, den Einsatz der neuen Software im Alltag.
Neue Herausforderungen
Mirko Pracht, Leiter Digitalisierung in der Systemführung, erläutert die Hintergründe: „Die Energiewende stellt neue Anforderungen an die Netzbetreiber und ihre Systemführungen. Die Volatilität der Einspeisung Erneuerbarer Energien sowie die steigende Zahl von steuerbaren elektrischen Verbrauchern erhöhen die Komplexität des Gesamtsystems und führen zu einer erheblichen Zunahme von Messdaten, Ereignissen und Aktionen im elektrischen System – die Zahl und die Komplexität der zu überwachenden Anlagen steigt erheblich und wird in Zukunft noch viel größer werden.“ Das mache flexible und volldigitale Lösungen mit einem hohen Automatisierungsgrad notwendig. Genau die gibt es jedoch bislang nicht. Bei den allermeisten Netzbetreibern sind heute noch monolithische Software-Lösungen mit definierten Funktionen und Prozessen im Einsatz, die sich angesichts der aktuellen Dynamik in den Übertragungs- und Verteilnetzen oft als zu starr erweisen. „Wir leben im Netzbetrieb teilweise noch in einer Welt, in der Netz- und Schaltbilder von den Kolleg:innen in Handarbeit erstellt werden müssen, bevor sie in die Systeme übernommen werden. Das kann mehrere Monate dauern “, stellt Pracht klar. Wolle man Veränderungen vornehmen – beispielsweise neue Assetklassen wie Statcoms oder Speicher hinzufügen, Daten aus externen Quellen ins Monitoring einbeziehen oder Berechnungen anpassen – münde das in aller Regel in einem großen, zeit- und kostenaufwändigen IT-Projekt. Ein weiterer Befund des Digitalisierungsexperten: „Alle Netzbetreiber weltweit haben angepasste Systeme – und sehr ähnliche Herausforderungen.“
Neue Ansätze
„Wir brauchen hier einen ganz neuen Ansatz, der uns über die Spannungsebenen hinweg befähigt, auch künftig eine stabile Versorgung zu gewährleisten und den hohen Bedarf an Flexibilitäten zu decken“, fasst Mirko Pracht zusammen. 50Hertz hat daher bereits im Jahr 2020 beschlossen, einen neuen Weg einzuschlagen. Seitdem entwickelt der Übertragungsnetzbetreiber im kooperativen Austausch mit anderen Netzbetreibern, Industrie- und Softwareunternehmen ein eigenes modular aufgebautes, digitales Leitsystem für die Systemsteuerung in seiner Regelzone.
Modulare Plattform
Die Architektur des Modular Control Center Systems (MCCS). Grafik: 50Hertz Transmission GmbH
Das jetzt vorgestellte Ergebnis trägt den Namen Modular Control Center System (MCCS) und soll das 50Hertz-Netzleitsystem und alle Anwendungen für die übergeordnete Steuerung (SCADA), Netzberechnungen (EMS) und Lastfrequenzsteuerung (LFC) vollständig ersetzen. Überdies wird es erweiterte Funktionen wie dynamische Sicherheitsanalyse, dynamisches Spannungsmanagement, automatische Topologieoptimierung, Online-Analytik und mehr bieten. Das System ist als modulare Plattform konzipiert und damit völlig anders aufgebaut als die bisherigen Leitsysteme am Markt: Deren Funktionalitäten wurden in MCCS gleichsam in einzelne Bausteine zerlegt, aus denen sich genau die im Einzelfall benötigte Anwendung „bauen“ lässt. „Die Modularisierung ist außerdem der Schlüssel für eine schnelle Entwicklung und Erweiterung“, ergänzt 50Hertz-Experte Pracht. Dabei setze man auf Algorithmen, die es erlauben, die Prozesse im Netzbetrieb deutlich stärker zu automatisieren. „Der Vorteil der Modularität liegt auf der Hand“, fasst Mirko Pracht zusammen: „Wir werden schneller und beweglicher – und das mit vertretbarem Kosten- und Ressourceneinsatz.“ Das angewendete „Security-by-Design“ verbessere dabei die Ausfallsicherheit und verringere die Auswirkungen von Fehlern.
Drei Schichten
In der Plattformarchitektur des MCCS wird das „Baukastenprinzip“ über drei Schichten durchdekliniert: Die grundlegende Schicht bildet die Elia Group Digital Platform (EDP). Diese stellt grundlegend Infrastruktur-, Daten-, Service- und Interaktionstechnologien für die darüberliegenden Funktionen und Anwendungen bereit. Als mittlere Schicht stellt die funktionale Plattform GrASP (Grid, Asset and System Platform) grundlegende Funktionalitäten und Prozesse wie Protokollierung, Datenmanagement, Zeitreihen, Alarmierung oder Benutzeroberfläche bereit. Diese werden je nach Anforderungen zu spezifischen Lösungen kombiniert. Nach diesem Prinzip wurden für die oberste Ebene der Plattform bereits vier für den Netzbetrieb relevante Anwendungen entwickelt: Netzüberwachung, Netzsteuerung, Netzberechnung und Spannungsregelung. Dabei nutzt beispielsweise das Modul Netzsteuerung standardmäßig die GrASP-Bausteine Datenmanagement, Zeitreihen und Benutzeroberfläche, kann aber bei Bedarf auch problemlos um eine Protokollierung oder Alarmfunktionen erweitert werden. „Das ist die Basis, aber natürlich gibt es noch viele Möglichkeiten, Anwendungen zu gestalten, die wir vielleicht in drei oder fünf Jahren brauchen“, so Pracht. Welche neuen Möglichkeiten sich damit für die Systemsteuerung ergeben, zeigt MCCS bereits in seiner aktuellen Entwicklungsstufe.
Netzüberwachung
Eine besondere Herausforderung im Netzbetrieb ergibt sich aus der Tatsache, dass im Zuge der Energiewende viele verschiedene Anlagen auf unterschiedlichen Ebenen überwacht werden müssen: Leistungstransformatoren, Leitungen und Kabel, Phasenschieber, aber beispielsweise auch Zäune oder Türen in einem Umspannwerk. „MCCS ist ereignis- und datengesteuert, integriert jede Art von Echtzeitdaten und macht sie sowohl für bestehende als auch für neue Anwendungsfälle zugänglich und transparent“, erklärt Mirko Pracht. Für die Überwachung der Daten stehen ganz verschiedene Arten der Visualisierung, wie Liniendiagramme, Diagramme, Tabellen und so weiter zur Verfügung. Basierend auf dem Common Information Model (CIM) können zudem viele Visualisierungen halbautomatisch oder automatisch erstellt werden, was den Zeitaufwand für die Aktualisierungen deutlich reduziert.
Netzberechnungen
Netzberechnung im MCCS. Grafik: 50Hertz Transmission GmbH
Immer komplexere Anlagen und Netztopologien sind manuell nur schwer zu bedienen und zu überwachen. Darüber hinaus gewinnen mit steigender Volatilität von Einspeisung und Verbrauch die Analyse der Systemstabilität sowie das Spannungs- und Blindleistungsmanagement weiter an Bedeutung. Mirko Pracht: „Netzberechnungen werden eine noch größere Bedeutung erlangen als heute und müssen zwingend in Echtzeit und vorausschauend durchgeführt werden.“ Mit Blick auf diese Anforderungen ist das Netzberechnungstool des MCCS hoch skalierbar und nutzt sowohl klassische als auch KI/Machine-Learning-Algorithmen. Es bewertet den Netzzustand, führt Lastfluss-, Kontingenz- und Stabilitätsanalysen durch und berechnet optimale Sollwerte für Netzanlagen auf der Grundlage eines ebenfalls anpassungsfähigen Netzmodells. Mirko Pracht: „Wir können die Algorithmen für Simulationen, Analysen und zur Generierung von Anweisungen für die Bediener:innen nutzen oder sie in Closed-Loop-Systeme, also geschlossene Regelsysteme, integrieren, die den gewünschten Zustand oder Wert dann automatisch aufrechterhalten.“
Netzsteuerung
„Die Aufgaben in der Netzsteuerung werden im Zuge der Energiewende erheblich zunehmen“, prognostiziert der 50Hertz-Verantwortliche. Daher zielt das System darauf ab, alle denkbaren Steuerbefehle, die manuell, halbautomatisch oder automatisch an Anlagen oder Netzteile ausgegeben werden, zusammenhängend zu verwalten.
Dabei sind der Ausführung umfangreiche Validierungen vorgeschaltet, bei denen das System automatisch überprüft, ob die Steuersequenz korrekt ist, der Initiator über entsprechende Rechte verfügt und das Asset bereit ist. „Dank des modularen Ansatzes kann die Anwendung Grid Control flexibler eingesetzt werden als klassische SCADA-Anwendungen und zum Beispiel auch Schließanlagen in Umspannwerken, Hilfskomponenten wie Dieselgeneratoren oder nötigenfalls auch einen Windpark steuern“, ergänzt Mirko Pracht. Gemeinsam besser gerüstet In den kommenden Monaten soll der Funktionsumfang des MCCS schrittweise erweitert werden, bis die Bestandssysteme für Netzüberwachung und -steuerung planmäßig 2025 abgelöst werden können. Die Erfahrungen und das Wissen über die Entwicklung der neuen Softwareplattform will 50Hertz auch mit anderen Netzbetreibern, Industrieunternehmen und weiteren Stakeholdern teilen und Kooperationen aufbauen. So will man Synergieeffekte für die Weiterentwicklung nutzen. Damit das aber auch weiterhin reibungslos funktioniert, will 50Hertz mit diesem Projekt insbesondere auch Impulse für die zeitgemäße Digitalisierung im Netzbetrieb setzen. Die Idee sei nicht nur in Deutschland auf sehr fruchtbaren Boden gefallen, berichtet Pracht und betont: „Jeder, der sich beteiligen will, ist herzlich eingeladen.“ (pq)