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Zertifizierungsprozess: Schneller am Netz

30.03.2023 – Der Zertifizierungsprozess bei großen Solaranlagen ist zäh, weshalb die Anlagen nur mit deutlicher Verzögerung ans Netz gehen. CarbonFreed hat eine KI-Software entwickelt, mit deren Hilfe das Netzanschlussverfahren von mehreren Monaten auf wenige Wochen verkürzt werden soll.

Bevor Freiflächen-Solaranlagen und große PV-Dachlagen ihren Strom produzieren können, müssen mehrere Hürden überwunden werden – angefangen bei der Konkurrenz um geeignete Flächen über die Finanzierung bis zu mitunter langwierigen Planungs- und Genehmigungsverfahren. Auch wenn alle diese Hindernisse aus dem Weg geräumt werden, erweist sich häufig der Zertifizierungsprozess als weiterer Flaschenhals. Bei jeder Solaranlage größer als 135 Kilowatt (kW), die in Deutschland ans Netz geht, muss projektspezifisch nachgewiesen werden, dass sie alle Anforderungen des Netzbetreibers einhält, um die Netzstabilität zu gewährleisten und die Systemsicherheit nicht zu gefährden.

Manuelle Fleißarbeit beim Zertifizierungsprozess

Dieser Prozess kann sehr zeitaufwändig sein, denn die Arbeitsschritte sind hochgradig manuell: Die Planungsunterlagen werden in Form von PDFs den Zertifizierungsstellen zur Verfügung gestellt, dort werden sie gesichtet, relevante Informationen werden herausgefiltert und auf ihre Plausibilität hin überprüft. Selten sind die Unterlagen von Beginn an vollständig und widerspruchsfrei. Auch kann es vorkommen, dass Angaben gemacht werden, die nicht zertifizierungsfähig sind, zum Beispiel genügt ein Stromwandler nicht den Anforderungen oder das Regelungskonzept erfüllt nicht die Vorgaben des Netzbetreibers. Im Nachgang wird der Installateur über die erforderlichen Anpassungen informiert und verteilt die Aufgaben auf seine Partner, wie etwa seinen Spezialisten für die Regelungstechnik und den Trafo sowie den Kontakt beim zuständigen Netzbetreiber. Die aktualisierten Unterlagen sendet der Installateur an die Zertifizierungsstelle. Danach müssen gegebenenfalls weitere Anpassungsschleifen durchlaufen werden, bis die rund 150 Prüfpunkte auf der Liste abgehakt sind.

CarbonFreed Projekt Pfenning Wirsol Rooftop Solutions

Solarprojekt bei Pfenning Logistics in Monsheim: Die Ausstellung des Anlagenzertifikats durch die Zertifizierungsstelle dauerte – noch ohne Verwendung der „gridcert“-Software – nur vier Wochen und war damit etwa viermal schneller als in vergleichbaren Projekten. Foto: Wirsol Rooftop Solutions

PV-Ausbauziele aktuell kaum erreichbar

Um die PV-Ausbauziele zu erreichen, müssen in den nächsten Jahren mehr Anschlusszertifikate deutlich schneller ausgestellt werden. Der Elektroingenieur Marko Ibsch ist aufgrund früherer beruflicher Tätigkeiten mit den Prozessen der Anlagenzertifizierung vertraut. Aufgrund der begrenzten personellen Kapazitäten in den Zertifizierungsstellen und den weiteren beteiligten Akteuren sowie des Fachkräftemangels sei das Erreichen der Ausbauziele in Gefahr, wie Marko Ibsch vorrechnet: „Die Zertifizierungsstellen schaffen bundesweit pro Jahr etwa 1.500 bis 2.500 größere Solaranlagen. Das entspricht einer Kapazität von fünf bis sieben Gigawatt. Wir brauchen aber rund 10.000 Anlagen pro Jahr mit einer Kapazität von 15 Gigawatt, damit wir die Ausbauziele der Bundesregierung schaffen können.“ Die Zubauzahlen lassen sich laut Ibsch nicht allein mit zusätzlichem Personal realisieren: „Ob Zertifizierer, Netzbetreiber, PV-Entwickler – alle stöhnen, weil der Ablauf der Netzanschlusszertifizierung so komplex, manuell und zeitraubend ist, dass sich die Elektroingenieure kaum um zusätzliche Anlagen kümmern können.“

Marko Ibsch sieht in intelligenten Softwaresystemen die Lösung des Problems. Im Jahr 2020 hat der Elektroingenieur das Start-up CarbonFreed mit dem Ziel gegründet, Netzanschlussverfahren für Solaranlagen zu digitalisieren. „In der Anfangszeit haben wir die Zertifizierungsstellen unterstützt, indem wir Daten gesammelt, diese bewertet und die Evaluierungsberichte vorbereitet haben, damit die Zertifizierungsstellen mit ihren Expert:innen die finalen Entscheidungen schneller treffen können“, erinnert sich der Gründer.

CarbonFreed Screenshot gridcert

Screenshot der KI-Software „gridcert“: Die eingereichten Daten werden von der Software gesichtet und automatisch nach Relevanz eingestuft. Bild: CarbonFreed GmbH

Gridcert: Vom Prototyp zur einsetzbaren KI-Software

Zunächst entwarf CarbonFreed mit der TU Hamburg-Harburg einen Prototyp der KI-Software. Hierbei handelte es sich um ein sogenanntes Computer Vision Model, eine Technologie, die es Computern ermöglicht, Informationen aus digitalen Bildern, Videos und anderen visuellen Quellen zu gewinnen und beispielsweise Muster zu erkennen. Im Anwendungsfall bei CarbonFreed ging es darum, Schaltpläne so auszuwerten wie es das menschliche Auge auch sehen würde. Dazu kommt das Durchsuchen von Textdokumenten nach spezifischen Inhalten. Zentrale Fragen waren etwa: Welche Wandler sind eingebaut und welche Eigenschaften weisen sie auf, zum Beispiel hinsichtlich Genauigkeitsklasse? Welche Schaltgeräte sind verbaut? Welcher Trafo ist eingesetzt? Marko Ibsch: „In der Elektrotechnik ist zum Glück fast alles mit Schlüsselwörtern und DIN-Zeichen versehen und standardisiert. Die nötigen Daten sind für eine intelligente Software also in der Regel gut zu erkennen.“

KI-Software gridcert

Eine Testphase mit dem eingesetzten Prototyp verlief laut dem CarbonFreed-Gründer erfolgreich, sodass im nächsten Schritt die Entwicklung der KI-Software „gridcert“ begonnen wurde. Die beim Zertifizierungsprozess anfallenden unübersichtlichen Datenmengen werden von der Software durchleuchtet, die relevanten Informationen extrahiert und in einer Datenbank zur weiteren Verarbeitung gespeichert. Dabei sei gridcert auch in der Lage, handschriftliche Notizen in den Dokumenten zu erkennen und in die Bewertung einfließen zu lassen. Die von den Elektro-Ingenieur:innen korrigierten Empfehlungen der Software fließen in das Training des KI-Algorithmus ein, um von Projekt zu Projekt immer zuverlässiger funktionieren zu können. Durch die Aufbereitung der Informationen und einer vorbereitenden Bewertung haben die Mitarbeiter:innen in den Zertifizierungsstellen mehr Zeit für die finalen Entscheidungen. „Wir gehen davon aus, dass Zertifizierungsstellen dank unserer Software künftig Anlagenzertifikate sechsmal schneller ausstellen können als vorher“, berichtet Marko Ibsch.

Echtzeitprüfung und Plattformlösung

Aktuell agiert die Software noch im Hintergrund, um die Sucharbeit für die CarbonFreed-Ingenieur:innen zu reduzieren. Sobald der Algorithmus zuverlässig arbeitet, will Marko Ibsch die Anwendung auf das Frontend schalten, damit die Nutzer:innen in Echtzeit Feedback zu ihren Eingaben erhalten – „wie bei einer Software beim Ausfüllen der Steuererklärung“. Der CarbonFreed-Gründer will gridcert im nächsten Schritt zu einer Plattform-Lösung ausbauen. „Alle am Zertifizierungsprozess beteiligten Akteure – Planer, Installationsbetriebe, Zertifizierer und Netzbetreiber – sollen mit einer einheitlichen Datengrundlage arbeiten können. Dadurch werden sie in der Lage sein, den Anschlussprozess von ihrem jeweiligen Blickwinkel aus zu betrachten und gleichzeitig den gesamten Projektfortschritt im Blick zu behalten.“ (ds)

www.carbonfreed.com/gridcert/