07.11.2024 – Für die Umsetzung von §14a EnWG haben MITNETZ STROM und exceeding solutions ein Tool für Stadtwerke entwickelt – basierend auf der eigenen Cloudlösung. Unterschiedliche Module helfen, den Netzzustand in der Niederspannung im Blick zu behalten und bei Bedarf gezielt einzugreifen.
Mit § 14a EnWG gibt der Gesetzgeber Netzbetreibern die Möglichkeit, steuerbare Verbrauchseinrichtungen (sVE) bei Bedarf herunterzuregeln. Die Voraussetzung für solche steuernden Eingriffe ist das Vorliegen eines Engpasses. Der wiederum wird anhand von Netzzustandsdaten aus Kundenanlagen ermittelt, die im sogenannten Tarifanwendungsfall 10 (TAF10) über das Smart Meter Gateway abgerufen werden. Ergänzen kann der Netzbetreiber diese Daten um Messungen an den Abgängen der Ortsnetzstationen. „Wenn sich aus diesen Informationen Probleme erkennen lassen, dann dürfen wir steuern“, erläutert Tino Noske, der bei MITNETZ STROM in der Gruppe Zielnetzplanung Strom arbeitet. Zu Noskes Aufgabe gehört unter anderem auch, „die Steuerung gemäß Paragraf 14a EnWG mit aufs Gleis zu setzen“.
Ab dem 01.01.2025 muss dies möglich sein. Die Anforderungen sind komplex und viele Stadtwerke nicht ohne Weiteres in der Lage, sie zu erfüllen. Die Stadtwerke wüssten jedoch, welche Niederspannungsnetze kritisch sind und nicht so schnell ausgebaut werden können, erklärt Noske. „Da bieten wir Schützenhilfe beim Einbau der Sensorik und der digitalen Zähler. So können wir unter anderem eine 3-phasige Messung der Spannung vor Ort am Kundenanschluss ermöglichen.“ Der Rollout bei MITNETZ STROM ist bereits in vollem Gange. Mit jedem weiteren Schritt stehen mehr Daten für die Bewertung der Netze zur Verfügung – speziell für die so genannte „Kritikalitätsprüfung“, also die Bestimmung engpassbehafteter Netze.
Cloudlösung nachgebaut
Damit der Mehrwert aus diesen Daten nicht nur MITNETZ STROM zur Verfügung steht, baut die exceeding solutions GmbH aus Halle, ein langjähriger Partner von MITNETZ STROM, die vom größten ostdeutschen Netzbetreiber genutzte Cloud nach – mit entsprechenden Algorithmen und Zugriffsrechten. Bereits 2023 wurde das Projekt gestartet, noch in diesem Jahr soll ein Feldtest mit interessierten Stadtwerken initiiert werden. Was in dieser Umgebung schon heute möglich ist erklärt Dr. Christoph Trautwein, Data Scientist bei MITNETZ STROM und zuständig für die digitale Systemführung. In dieser Funktion beschäftigt er sich auch mit künstlicher Intelligenz in Stromnetzen und schafft quasi die Datenbasis für die Smartifizierung. „Wir sammeln Daten von Umspannwerken, wie Spannung, Stromstärke, Wirk- und Blindleistung mithilfe des System ProNet – ein Akronym für Prozessdaten und Netzinformationen. Diese erweitern wir um geografische Daten und Wettervorhersagen. Auch unsere Ortsnetzstationen und intelligente Messsysteme stellen Daten zur Verfügung. Diese Informationen werden in der Cloud gespeichert und wir können sie dann für verschiedene Zwecke nutzen.“
Monitoring
Der erste Anwendungsfall ist das Monitoring. „Mithilfe der Informationen von unseren rund 16.000 Ortnetzstationen werden Engpässe erkennbar. Wir können also sehen, ob es ein Problem im Niederspannungsnetz gibt. Denn angesichts der rasant steigenden Zahl von Erzeugern wie zum Beispiel Photovoltaikanlagen, bei gleichzeitig rapidem Zubau von Verbrauchern wie Ladesäulen für E-Mobility und Wärmepumpen, steigt die Last im Niederspannungsnetz. Deshalb gilt es, den Netzausbau gezielt zu steuern und unnötigen Ausbau und damit Kosten zu vermeiden. Das Monitoring hilft uns, Probleme schnell zu identifizieren“, so der Data Scientist.
Simulation
Die zweite Ebene ist dann die Simulation. Hierbei wird anhand der Messdaten bewertet, wie sich das Niederspannungsnetz in bestimmten Situationen verhält. „Diese Daten werden miteinander verknüpft, um die Spannungsqualität zu ermitteln“, erklärt Trautwein. „Dann erfolgt ein Abgleich mit historischen Daten. So ermitteln wir, wie sich das Netz früher in so einer Situation verhalten hat.“
Forecast
Daran schließt sich die so genannte KI-Prognose oder auch Forecast an. „Wir trainieren neuronale Netze, nutzen also Künstliche Intelligenz, damit diese aus historischen Daten ein Muster erkennen und daraus ein Verhalten für die Zukunft ableiten kann“, so Trautwein. Dazu werden Messdaten aus den Assets sowie Wetterdaten und geographische Daten übereinandergelegt und die Frage gestellt: Zu welchem Zeitpunkt erwarte ich wo einen Engpass? Anhand einer Vielzahl von wiederkehrenden Phänomenen im Netz, kann die KI dann vorhersagen, wann und wo Probleme auftreten könnten.
State Estimation
Ebene vier ist die KI-basierte Netzzustandsschätzung. „Dahinter verbirgt sich das Abschätzen des aktuellen Netzzustandes auf der Basis von Messungen, auch State Estimation genannt. Dabei geht es im Wesentlichen darum, aus partiellen Messungen – beispielsweise von 20 Prozent des Stromstrangs – Aussagen über die restlichen 80 Prozent abzuleiten“, erläutert der Experte. „Ziel dabei ist es, dass wir nicht überall Messtechnik einbauen müssen, sondern nur dort, wo Probleme erwartet werden.“
Engpassmanagement
Das Engpassmanagement ist der letzte Baustein: Basis hierfür ist §14a EnWG, der regelt, wie Netzbetreiber steuerbare Verbrauchseinrichtungen handhaben können, um Engpässe zu vermeiden, die Überlastungen der Geräte, Anlagen und Systeme zu verhindern und in der Folge Stromausfälle zu unterbinden. „Wenn wir alle Daten haben, können wir Probleme im Netz erkennen, uns Trafos und Niederspannungsabgänge anschauen und die Spannungsqualität überprüfen. Bei Problemen dürfen wir dann die Leistung auf 4,2 kW dimmen“, informiert Trautwein.
Als technische Voraussetzung für diese Prozesse müssen bei den Kund:innen Steuerboxen und intelligente Messsysteme verbaut sein, Messtechnik in Ortsnetzstationen als Retrofit installiert und über ein Gerätemanagement angebunden werden. „Derzeit laufen die Gespräche mit entsprechenden Anbietern“, so Trautwein und verweist dabei auf die umfangreichen Zertifizierungen, die erforderlich sind, Daten aus den intelligenten Messsystemen abzurufen und weiterzugeben sowie Steuerbefehle zu übermitteln.
Modulare Lösung für Stadtwerke
Die Anforderungen gelten ab 2025 – nicht nur für große Verteilnetzbetreiber, sondern für jedes Stadtwerk. „Deshalb wollen wir unsere Kompetenzen den Stadtwerken als Dienstleistung zur Verfügung stellen“, so Christoph Trautwein. Dazu entwickelt der MITNETZ-Partner exceeding solutions derzeit ein modulares System, bei dem einzelne Bausteine ausgewählt werden können. „Das ist vor allem für Stadtwerke interessant, welche die Leistungen nicht selbst erbringen können“, erklärt der Datenexperte.
Smart Energy Cloud
Erfolgreicher Feldtest in Limbach-Oberfrohna
Während der Feldtest mit den Stadt- werken noch in den Startlöchern steht, hat ein anderer schon weitreichende Erkenntnisse geliefert: In Limbach-Oberfrohna hat MITNETZ STROM mit exceeding solutions vor drei Jahren ein Projekt mit 60 Einfamilienhäusern und sechs Ladepunkten gestartet, bei dem die Übertragungsfähigkeit des Stromnetzes mit neuen Technologien erhöht werden soll. In der dazu gehörigen Transformatorenstation werden die Abgangsströme und die Spannungen gemessen. Darüber hinaus sind in einigen Haushalten Smart-Meter und Steuerboxen verbaut. „Diese senden wichtige Netzzustands- und Verbrauchsdaten sicher und verschlüsselt an uns. Bei Bedarf können wir steuernd ins Netz eingreifen. Die Ergebnisse dieses Feldtests sind sehr überzeugend“, erklärt Tino Noske.
„Den Stadtwerken fehlt für eigene Lösungen oft Geld, Personal und Infrastruktur“, erläutert Oliver Punk, Geschäftsführer und Mitgründer von exceeding solutions. „Wir schaffen deshalb ein gemeinsam nutzbares Produkt auf der Grundlage der bewährten Systeme von MITNETZ STROM.“ Im Fokus der Lösung steht die Smart Energy Cloud (SEC) – eine Datendrehscheibe für die Stadtwerke, mit der diese sich an bestehende Systeme anschließen können. „Dabei erfolgt die Messwertaufnahme über intelligente Messsysteme (iMSys), über Steuerboxen werden die Steuerhandlungen zurück ins Netz geschickt. Alle erhobenen Daten werden genutzt, um den Zustand der Netze bestmöglich zu bewerten“, beschreibt er das Prinzip. Die Cloud-Lösung ist vollständig über die Weboberfläche nutzbar.
„Die Stadtwerke bekommen den höchstmöglichen Automatisierungsgrad in Form von Machine-to-Machine – also M2M – dem automatisierten Informations- und Datenaustausch zwischen Endgeräten“, versichert der Geschäftsführer. „Dadurch wird unser Produkt sehr komfortabel und lässt sich leicht handhaben.“
„Autopilot für das Netz“
Tino Noske von MITNETZ STROM konkretisiert: „ Die Stadtwerke bekommen ein transparentes Netz und entsprechende Steuersignale. Eine Netzzustandsanzeige in Grün, Gelb und Rot visualisiert mögliche Probleme. Bei Gelb erfolgt eine Warnung und gegebenenfalls wird runtergeregelt, bevor die Ampel auf Rot springt“, erklärt er.
Oliver Punk bezeichnet die Entwicklung als „Autopilot für das Netz“. Aufgrund von Netzzustandsdaten (Auslastung, Schwachstellen) werde den Stadtwerken im Bedarfsfall unmittelbares Handeln ermöglicht. „Sie müssen sich dann um ihre Trafos keine Sorgen mehr machen.“ Zur Verdeutlichung hat der Experte drei Beispiele parat. Im ersten Fall geht es um einen akuten Eingriff: „Ein Trafo ist mit 150 Prozent ausgelastet, weil dahinter vier Teslas hängen – dann erfolgt sofort der steuernde Eingriff, indem weniger Ladekapazität zur Verfügung gestellt wird und der Trafo läuft wieder mit 100 Prozent.“ Das zweite Szenario beschreibt eine Vorhersage der Situation im Netz anhand von Wetterdaten: „In einer bestimmten Region gibt es Bauernhöfe mit riesigen Solaranlagen. Der Wetterbericht sagt, es scheint dort morgen die Sonne. Dann ist sehr viel Einspeisung zu erwarten. Der Netzbetreiber kann sich entsprechend wappnen und gegensteuern.“ Das dritte Beispiel ergänzt diese Vorausschau um historische Daten: „Aus der Erfahrung heraus wissen wir, dass immer am Wochenende und vor allem an Samstagen viele Leute ihre E-Autos laden wollen und deshalb viel Leistung abgerufen wird. Auch hier kann mit entsprechenden Steuerungshandlungen Vorsorge getroffen werden.“
Grundsätzlich können die Stadtwerke entscheiden, ob sie selbst steuern wollen oder den gesamten Prozess an den Dienstleister übergeben möchten. In dem Fall liefert exceeding solutions lediglich die benötigten Daten.Dass MITNETZ STROM und exceeding solutions nicht die Einzigen sind, die an einem entsprechenden Produkt arbeiten, ist Oliver Punk bewusst. „Es wird verschiedene Anbieter und unterschiedliche Lösungen geben. Aber unsere ist die beste, weil wir in Systeme integrieren, die schon vorhanden sind“, meint er selbstbewusst. Die Pflichtaufgabe des Steuerns solle von den Stadtwerken mit möglichst geringem Aufwand erfüllt werden können. „Das ist uns besonders wichtig.“ (pq)