12.04.2023 – Die Stadtwerke Plettenberg und Werdohl wollen sich über ein Betriebspachtmodell mit der ENERVIE-Gruppe dauerhaft zukunftssicher aufstellen. Die Konstruktion ist bislang einmalig in Deutschland.
Turbulenzen an den Beschaffungsmärkten, Digitalisierung der Kundenkommunikation und der Verteilnetze, Smart Meter Rollout, variable Tarife, Elektromobilität – die Liste der anstehenden Herausforderungen in der Energiewirtschaft ließe sich fortsetzen. Für kleine Stadtwerke und Netzbetreiber mit einigen Tausend Kund:innen sind das fraglos „dicke Bretter“ und nicht wenige sehen sich daher aus gutem Grund nach starken Partnern um.
So auch die Stadtwerke Werdohl und Plettenberg im Märkischen Kreis in Nordrhein-Westfalen. Die kommunalen Versorgungsunternehmen waren wirtschaftlich erfolgreich, wie ENERVIE-Vorstandssprecher Erik Höhne berichtet. Der Wunsch, sich mit Blick auf die Zukunft neu aufzustellen, sei weit vor der Energiepreiskrise gereift. Der Hagener Regionalversorger war mit beiden Werken bereits durch langjährige gute Geschäftsbeziehungen verbunden, nicht nur über Beteiligungen, sondern auch durch die operative Zusammenarbeit mit den Konzerntöchtern ENERVIE Vernetzt im Netzbetrieb und Mark-E im Stromvertrieb. Angesichts steigender Anforderungen und Risiken suchten die Stadtwerke Werdohl und Plettenberg nach Möglichkeiten, die Kooperation zu intensivieren.
Interessen der Kommune im Blick
Kein Einzelfall, bestätigt auch Dr. Thorsten Volz, Partner der internationalen Kanzlei Watson Farley & Williams. „Der langjährige Trend zur Rekommunalisierung scheint sich gerade umzukehren.“ Er berät regelmäßig Energieversorger bei Übernahme- und Umstrukturierungsprojekten. Seine Erfahrung: Die Kommunen haben oft ein spezielles Selbstverständnis und besondere Interessen, die unbedingt berücksichtigt werden sollten. „Bei Städten und Gemeinden sind zum Beispiel Veränderungen der Eigentumsverhältnisse nicht sehr beliebt, Mehrheitsbeteiligungen oder Übernahmen scheitern daher oft.“ Pachtmodelle dagegen, bei denen das Anlagevermögen im Besitz der Kommune bleibt, stießen auf deutlich höhere Akzeptanz – zumal sie für regelmäßige planbare Einkünfte sorgten. Zumindest im Bereich der Energieversorgung sind sie daher auch keine Seltenheit mehr.
Das Pachtmodell für die Stadtwerke Werdohl und Plettenberg, das Volz und sein Team im Auftrag von ENERVIE entwickelten, geht jedoch deutlich weiter: „Unsere Tochterunternehmen Mark-E und ENERVIE Vernetzt pachten alle wesentlichen Teile des operativen Geschäftsbetriebs der beiden Stadtwerke – zunächst auf zehn Jahre“, erläutert Erik Höhne.
Die beiden Stadtwerke bleiben jeweils als Eigentumsgesellschaft erhalten, verwalten und finanzieren also auch weiterhin das im kommunalen Eigentum verbleibende Anlagevermögen rund um die Gas- und Wasserversorgung in den beiden Kommunen. „Uns war es sehr wichtig, die Kommunen optimal mitzunehmen“, ergänzt der ENERVIE-Vorstandssprecher. Dementsprechend wurden die Gespräche zunächst mit der Kommune geführt und dabei ausgelotet, was den kommunalen Verantwortlichen wichtig war. Die Umsetzung – von der Machbarkeitsstudie über die regulatorischen, steuerlichen und öffentlich-rechtlichen Ausgestaltungen bis hin zu den fertigen Verträgen – dauerte gut anderthalb Jahre. Dabei waren die Interessen der Partner jederzeit im Blick. So wurden beispielsweise Gremien geschaffen, in denen sich die kommunalen Vertreter und Vertreterinnen regelmäßig über vor Ort relevante Versorgungsthemen wie geplante Baumaßnahmen, Preisgestaltung oder ähnliches informieren können.
Übernahme der Stadtwerke-Kund:innen: Reibungsloser Übergang
Anfang November 2022 wurden die Verträge unterzeichnet, seit dem 01.01.2023 ist das Pachtverhältnis offiziell in Kraft. Aktuell laufen die letzten notwendigen Anpassungen. Seit Jahresbeginn haben Mark-E und ENERVIE Vernetzt somit auch die bisherigen Stadtwerke-Kund:innen übernommen, rund 7.000 in Werdohl und 8.500 in Plettenberg. „Das verlief absolut reibungslos“, berichtet Erik Höhne.
Die insgesamt etwa 25 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der beiden Stadtwerke sind künftig Beschäftigte in der ENERVIE Gruppe und auch dieser Übergang konnte gut vollzogen werden. „Wir freuen uns besonders, dass wir alle übernehmen konnten“, sagt Höhne. Die Planungen und Prozesse wurden frühzeitig mit dem Betriebsrat und den einzelnen Beschäftigten abgestimmt. „Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen hatten und haben ausführlich Gelegenheit, ihre künftigen Aufgabenfelder kennenzulernen und in Teilen auch mitzugestalten“, berichtet er. Insgesamt seien die Beschäftigten froh, im Verbund der ENERVIE Gruppe einen modernen, sicheren Arbeitsplatz zu haben, sich auf ihre Kompetenzbereiche konzentrieren und sich weiterentwickeln zu können.
Synergien für den Vertrieb
Solche Rückmeldungen zeigen sehr deutlich, welche Synergievorteile das Pachtmodell jenseits der finanziellen Absicherung der kleineren Stadtwerke hat. Das gilt nicht nur mit Blick auf einen effizienteren Netzbetrieb, von dem letzten Endes vor allem die Kund:innen profitieren. Gerade im Vertrieb sieht der ENERVIE-Vorstandssprecher große Potenziale: „Als größerer Versorger haben wir die Möglichkeit, Prozesse zu bündeln und zu automatisieren – sprich: ein komplexer Vorgang wie die Preisbremsen muss nicht dreimal und schon gar nicht händisch durchgeführt werden.“
Zukunftsträchtige Angebote wie Ladesäulen, PV- oder Contracting-Lösungen würden im Verbund deutlich rentabler, manches wäre wohl im Alleingang für ein kleines Werk gar nicht möglich. „Und eine breite Basis zufriedener Kunden nützt natürlich allen Beteiligten“, ergänzt Höhne.
Auch als Antwort auf den allgegenwärtigen Fachkräftemangel erscheinen solche Kooperationen vielversprechend. Bei der Ausbildung und Rekrutierung qualifizierter Kräfte haben kleine Betriebe erfahrungsgemäß weniger Möglichkeiten – und zudem meist überhaupt keine Stellen für Spezialisten. Auch in der Energieversorgung ist das nicht anders.
Blaupause für kommunale Betriebe?
Aus Sicht von Dr. Thorsten Volz könnte die neuartige Pachtkonstruktion Modellcharakter für kommunale Betriebe haben: „Es gibt aktuell einen spürbaren Veränderungsdruck. Dieses neue Outsourcing-Modell, das derzeit einmalig auf dem deutschen Energiemarkt ist, trägt definitiv dazu bei, eine zuverlässige und bezahlbare Versorgung für Plettenberg und Werdohl sicherzustellen.“ Grundsätzlich gäbe es aber keine Patentrezepte – und viele denkbare Ausprägungen für Kooperationen. Es lohne sich, die Optionen auszuloten. Erik Höhne ergänzt: „Wichtig ist, dass auch kleinere Partner den Mut haben, die Initiative zu ergreifen, und dass es am Schluss für alle passt.“ In Werdohl und Plettenberg scheint das der Fall zu sein. (pq)