17.05.2022 – Eine Studie untersucht das Potenzial von KI-Anwendungen im Netzbetrieb. Die Erkenntnisse liefern Netzbetreibern einen Leitfaden für den schrittweisen Aufbau der erforderlichen Kompetenzen und für den Start erster KI-Projekte.
Die steigende Komplexität, mit der sich Verteilnetzbetreiber (VNB) in nahezu allen Aufgabenbereichen befassen müssen, kann perspektivisch mit konventionellen Methoden nicht mehr gemeistert werden. Einen möglichen Lösungsansatz versprechen Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI), welche als zukünftige Schlüsseltechnologie auf die Nutzung großer Datenmengen setzt. Wie Energieversorger das Potenzial von KI für ihre Unternehmen und die Energiewende erfassen und in die Praxis überführen können, hat die Technologie- und Organisationsberatung umlaut, Teil von Accenture, im Rahmen einer Studie anhand von Fallbeispielen und Experteninterviews untersucht.
Erfolgsfaktoren für KI-Einsatz
Damit Künstliche Intelligenz dazu beitragen kann, die Anforderungen an ein flexibles und mittelfristig klimaneutrales Stromnetz zu erfüllen, gilt es für die Netzbetreiber einige Hürden zu überwinden. Neben regulatorischen Aspekten wie einheitliche Datenschutzregelungen sowie Herausforderungen im operativen Bereich nennen die Studienautoren hierbei vor allem den Aufbau einer umfassenden KI-Strategie. Dieser Punkt werde häufig übersehen. Es bestehe dann die Gefahr, dass die VNB aufgrund der vielseitigen Ansätze den Überblick über Möglichkeiten und Grenzen des KI-Einsatz verlieren.
Eine solche Strategie berücksichtige laut umlaut die Einführung und Nutzung im Anschluss an die Implementierung eines KI-basierten Tools. Bei der Einführung sollten von Beginn an alle betroffenen Mitarbeitenden eingebunden und entsprechend geschult werden, um die Akzeptanz des neuen Werkzeugs zu erhöhen.
Daten richtig aufbereiten
Die Auswertung großer Datenmengen mittels KI kann genutzt werden, um die Planung und den Betrieb des Stromnetzes zu optimieren. Dabei müssen zahlreiche Einflussfaktoren häufig echtzeitnah berücksichtigt werden, um auf Schwankungen in der Erzeugung und im Verbrauch schnell reagieren zu können und gleichzeitig die Netzstabilität sicherzustellen. Es lässt sich allerdings feststellen, dass man für die Entwicklung eines KI-Modells die benötigten Datenmengen häufig erst aus Datensilos zusammentragen muss . Zwar werden in der Energiewirtschaft aufgrund der Anforderungen der Marktkommunikation, vernetzter Erzeugungsanlagen und der Einführung intelligenter Stromzähler seit vielen Jahren zahlreiche Daten erhoben. Der Datenverkehr erfolge jedoch häufig per Mail, es existieren keine Daten-Infrastrukturen, in denen Daten gespeichert und für nachfolgende Verarbeitungen aufbereitet werden. Hinzu kommt, dass Anbieter von KI-Lösungen auf die unternehmensinterne IT angewiesen sind, sodass ausreichend personelle Kapazitäten für ein solches Projekt vorhanden sein müssen. Weiteren Mehraufwand kann die Einhaltung der Datenschutz-Vorgaben verursachen: So wird etwa die Nutzung personenbezogener Daten in der DSGVO reguliert und Anbietern kann untersagt werden, ihr KI-Modell auf bestimmten Daten zu trainieren. Für deren Nutzung im Bereich der Kritischen Infrastrukturen ist es wichtig, Entscheidungen nachvollziehen zu können. Je komplexer ein KI-Modell ist, umso schwieriger werde es jedoch, diese Transparenz zu gewährleisten.
Auswertung der KI-Anwendungsfälle
Im Rahmen der Studie wurden 37 relevante KI-Anwendungsfälle in neun Bereichen für Netzbetreiber identifiziert:
- Intelligente Anlagenüberwachung
- (Personen-) Sicherheitsmanagement
- Personal- und Ressourcendisposition
- Inspektion und Wartung
- Anlagen- und Infrastrukturdokumentation
- Last- und Einspeiseprognose
- IT-Sicherheit
- Netzüberwachung
- Lastflussmanagement
Anschließend wurden die Anwendungsfälle analysiert und in einer einheitlichen Bewertungsmetrik („KI Energy Radar“) hinsichtlich ihrer Reife und ihres Potenzials bewertet. Auf der Reifegrad-Skala zeigt sich ein breites Spektrum: Dieses reicht von Anwendungen, die bereits am Markt etabliert sind bis zu solchen, die bislang lediglich als Idee im Forschungskontext existieren. Das Potenzial der Anwendungen errechnet sich aus mehreren Faktoren zusammen: der kumulierten Betrachtung des Effizienzpotenziales, dem wirtschaftliche Potenzial sowie der Relevanz der KI-Anwendung für die betrachtete Aufgabe. Angesichts der weitreichenden Vorteile, die Künstliche Intelligenz Netzbetreibern bietet, wurde das Potenzial für die Anwendungsfälle im Schnitt eher gut bewertet.
Prognose-Anwendungen mit höchstem Potenzial beim KI-Einsatz
In einer weiteren Auswertung geht es um die gemittelten Bewertungen auf der Potenzial- sowie der Reifegrad-Skala für die einzelnen KI-Fähigkeiten. Demnach weisen Prognose-Anwendungen das höchste Potenzial auf. Die Studienautoren verweisen auf die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten sowie auf die Vorteile, die sich aus einem genauen Kenntnisstand über zukünftige Netz- oder Anlagenzustände sowie Ressourcenbedarfe ergeben würden. Im Bereich der Systemführung könnten aufgrund der zu erwartenden Einspeise- und Verbrauchsmengen etwa Handlungsempfehlungen für eine optimale Ausnutzung der verfügbaren Kapazitäten abgeleitet werden. Im Bereich Inspektion und Wartung könnten Prognosen von Anlagenausfällen zu einer Steigerung des Planungsgrades führen.
Den Anwendungen der KI-Fähigkeit „Entdecken“ schreibt man das zweithöchste Potenzial zu. Hierzu zählen beispielsweise die Mustererkennung, Klassifizierung und Anomalie-Erkennung. Das Potenzial solcher Anwendungen liegt vorrangig in den Bereichen der Anlagen- und Netzüberwachung sowie der Netzzustandsschätzung. Mit Blick auf die zunehmend volatilen Einspeisungs- und Verbrauchsmengen regenerativer Energie im Stromnetz ist die Ermittlung aktueller Netzzustände ein wichtiges Werkzeug für ein effektives Lastflussmanagement. Die Autoren verweisen auf die benötigten großen Datenmengen, damit die Netzbetreiber funktionierendes von störbehaftetem Betriebsverhalten unterscheiden oder Netzzustände auf Basis lückenhafter Messungen ableiten können. Zudem müssten insbesondere im Bereich des Lastflussmanagements hohe Anforderungen an die Sicherheit der Anwendungen gewährleistet werden.
Potenziale im Bereich Anlagen- und Infrastrukturdokumentation liegen nach Ansicht der Studienautoren eher in der Steigerung der Effizienz, welche durch Methoden des Textverständnisses und der Bildverarbeitung erreicht werden können. Interessant sei dies vor allem für Unternehmen, die erste KI-Applikationen nutzen möchten, da sich durch ihre hohe Reife schneller Erfolg in Pilotprojekten zeigen könne.
Predictive Maintenance
Die bisherigen Ausführungen verdeutlichen, dass Netzbetreiber zahlreiche Einsatzmöglichkeiten für Künstliche Intelligenz sehen. Jedoch befinden sich laut der Studie erst wenige Projekte in der praktischen Umsetzung. Für die Vorhersage von Störungen bei Betriebsmitteln wie Erzeugungs- und Verteileranlagen oder Kabel im Mittelspannungsnetz verspricht der Einsatz Künstlicher Intelligenz eine höhere System- und Versorgungssicherheit sowie geringere Kosten aufgrund des Wegfalls kurzfristiger Service-Einsätze. Der im Rahmen der Studie befragte Dr. Johannes Wagner, Data Scientist beim Softwareunternehmen Ginkgo Analytics, schildert, dass ein effektiver KI-Einsatz neben den erschwerenden regulatorischen Eingriffen häufig an mangelnder Aufbereitung und zentraler Bereitstellung der Daten in Echtzeit in den Datenbanken scheitere.
Einspeiseprognosen
Im Interview mit den Studienautoren erklärt Felix Ollech, Geschäftsführer des Softwareunternehmens NAECO Blue, welches auf Künstlicher Intelligenz basierende Einspeiseprognosen für Wind- und Solaranlagen entwickelt, dass für ihn die sichere Planung der Netzbetriebsführung im Fokus vom KI-Einsatz steht. Außerdem ließen sich validere Aussagen zum Betriebszustand und zum optimalen Wartungszeitpunkt treffen. Hinsichtlich der Qualität der zugrundeliegenden Daten müssten zwei Aspekte berücksichtigt werden: Übermittelt der Kunde lückenhafte Daten, z.B. aufgrund eines defekten Wechselrichters, führe dies zu einem Mehraufwand bei der Datenaufbereitung. Gleiches gelte, wenn die Erzeugungsdaten der Anlagen zunächst gekauft werden müssen, weil sie nicht Eigentum des Energieversorgers sind. Auf der anderen Seite müsse eine genaue Betrachtung der verwendeten Wetterdaten vorgenommen werden. Für präzise Prognosen sollte der Algorithmus auf historische Produktionsdaten, Wetterdaten und standortbezogene Einflussfaktoren wie die lokale Vegetation oder Topographie zugreifen können.
Netzüberwachung
Im Verteilnetz sind KI-Verfahren wie neuronale Netze in der Lage, das Übertragungsverhalten im jeweiligen Netzabschnitt zu erlernen und somit die aktuelle Auslastung der einzelnen Abschnitte auch im Falle lückenhafter physischer Überwachung in Echtzeit abzubilden. Das Lösungsspektrum reicht von Anwendungen, die lediglich auf Verletzungen des Spannungsbandes hinweisen, bis zu komplexen Lösungen, die sämtliche elektrische Größen für alle Netzknoten ableiten können. Laut der Studie liegt der Unterschied vor allem in den Daten, welche als Grundlage für das Trainieren des KI-Modells eingesetzt werden – von einfachen Strom- und Spannungsmessungen an Kuppeltransformatoren bis zu hochfrequenten Abtastungen mithilfe von PMU-Sensoren.
Im Unterschied zum Lastflussmanagement greifen Netzüberwachungssysteme nicht aktiv in die Betriebsführung ein und können daher ohne rechtliche Einschränkungen in der Praxis angewandt werden. Gerade in den Verteilnetzen stellt die mangelnde Ausrüstung zentraler Netzknoten mit Sensorik eine Herausforderung dar. Im Anschluss ist darauf zu achten, dass die Daten in einem einheitlichen System gesammelt werden, um den Datenaustausch und den Zugriff durch das KI-Modell zu erleichtern.
Anlagen- und Infrastrukturdokumentation
Für Netzbetreiber, die erste Erfahrungen in der Umsetzung von KI-Projekten sammeln möchten, empfiehlt sich der Einsatz im Bereich der Anlagen- und Infrastrukturdokumentation. Da entsprechende Anwendungen verhältnismäßig einfach auszuführen und bereits am Markt verbreitet seien, könnten die KI-Methoden meist schneller und günstiger im Unternehmen eingesetzt werden als Methoden in Bereichen mit vermeintlich höherem Potenzial wie etwa bei der Netzüberwachung. Michael Hartke, Geschäftsführer des Softwareanbieters clarifydata, nennt als Herausforderung das Auswerten von Hausanschlussdokumentationen über verbaute Betriebsmittel sowie bauliche Maßnahmen wie den Anschluss privater Wallboxen. Mithilfe von Bilderkennungsverfahren können solche Dokumente automatisiert verarbeitet und relevante Informationen herausgezogen werden, um ein umfassendes Lagebild aller Hausanschlusssicherungen und deren aktueller Auslastungen sowie der gesamten Ortsnetzstation zu erhalten. Für einen korrekten Dateninput solle in diesem konkreten Anwendungsfall auf interdisziplinäres Wissen zurückgegriffen werden, da neben IT-Kompetenzen auch Fachwissen aus der Energietechnik gefragt sei. (ds)
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